Die Neumen, die zuerst im 9. Jahrhundert auftauchen und ab dem 11. Jahrhundert nach und nach durch eine modernere Notation ersetzt werden, können keine exakten Tonhöhenhinweise geben, sind aber präziser als ihre auf Notenlinien geschriebenen Nachfolger, was bestimmte Aspekte ihrer Ausführung anbelangt.
In der Zeit des sogenannten Notre-Dame-Repertoires (etwa 1150-1250) bediente man sich der Modalnotation, in der der Rhythmus eines Abschnittes durch die unterschiedliche Gruppierung der Noten zu Ligaturen angezeigt wurde. Dabei fällt die letzte Note einer Ligatur immer entweder auf eine betonte Zählzeit oder sie ist verhältnismäßig lang oder beides. In der Theorie ganz einfach, ergeben sich durch das Bedürfnis, auch komplexere als die sechs Grundrhythmen ("Modi") darstellen zu wollen, Notierungen, die für heutige Editoren mehrdeutig bleiben. Nicht angewendet werden kann dieses System für jeden syllabisch vertonten Text. Das betrifft sowohl die mehrstimmigen Conductus-Sätze als auch die Lieder der Troubadours, Trouveres und Minnesänger. Da sich die Gruppierung der Noten hier nach der Zuordnung zu den Silben richtet und nicht nach der abstrakten Darstellungsweise der Modi, kann man sich hier bei einer Übertragung nur nach dem Wortrhythmus bzw. dem Versmaß der vertonten Texte richten. Auch hier sind meist mehrere Möglichkeiten denkbar, ein und dasselbe Stück zu übertragen.
Eindeutiger wird es etwa ab 1300 mit der Mensuralnotation, die ab ca. 1600 fast nahtlos in unsere heutige Notation übergeht. Manche Stücke des späten 16. Jahrhunderts unterscheiden sich von der heutigen Notation nur durch das Fehlen von Taktstrichen und die Verwendung von c-Schlüsseln. Die Gruppierung von Noten zu Ligaturen ist allerdings ein typisches Kennzeichen auch dieser Notationsform. Das System der Mensuren ist vergleichbar, aber nicht identisch mit den heutigen Takten. Die Lehre von den Proportionen, also den Verhältnissen der Notenwerte in den verschiedenen Mensuren, ermöglicht es, auch die kompliziertesten Rhythmen darzustellen. Was die rhythmische Komplexität der sogenannten "ars subtilior"-Musik am Ende des 14. Jahrhunderts angeht, gibt es sowohl vorher als auch nachher nichts Vergleichbares. Allerdings muß für die Übertragung von Dreier-Mensuren ein kompliziertes Regelsystem beherrscht werden: Je nach den umgebenden Noten müssen hier zum Teil bestimmte Notenwerte verlängert, andere verkürzt werden.
© Oktober 2005 Karen Thöle