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Neumen

Lichtspur einer Dirigierbewegung

Neumen entstanden vermutlich aus den Dirigierbewegungen der frühmittelalterlichen Leiter von Sängergruppen, mit denen sie das Auf und Ab der Melodie darstellten (griech. Noëma=Fingerzeig).

Die Handbewegungen wurden unterteilt und - den jeweiligen Silben zugeordnet - über den Text geschrieben. Auf dem rechten Bild ist die Dirigierbewegung zum Beginn des Introitus Puer natus zu sehen, sichtbar gemacht mit einer Taschenlampe und einer Langzeitbelichtung (Johanna Grüger, Leiterin der Göttinger Choralschola "cantando praedicare"). Der Beginn des gleichen Stückes ist auf dem unteren Bild in einer Kopie aus dem Graduale triplex zu sehen. In dieser Ausgabe der Messgesänge sind, soweit möglich, alle Melodien in drei verschiedenen Fassungen wiedergegeben. In der Mitte steht jeweils die Melodie in Quadratnotation, und darüber und darunter sind die Neumen aus zwei verschiedenen frühmittelalterlichen Handschriften eingetragen worden.

Beginn des Introitus Puer natus aus dem Graduale triplex
Während die Quadratnotation sehr genau die (relativen) Tonhöhen angeben kann, jedoch keine Zeichen hat, um zwischen Längen und Kürzen zu unterscheiden, vermitteln einige der verschiedenen Neumenschriften die Bewegungsgeschwindigkeit und -intensität recht differenziert, können aber die Intervalle, die zwischen den einzelnen Tönen liegen, nicht angeben. Neumen sind also eine Aufzeichnungform für Musik, die damit rechnet, daß die Sänger die Melodie zumindest ungefähr im Kopf haben. Wer also die frühmittelalterlichen liturgischen Melodien, die heute als Gregorianik bezeichnet werden, rekonstruieren möchte, ist auf Kenntnis sowohl der Quadratnotation als auch der Neumen angewiesen, da ohne die Aufzeichnung in der Quadratnotation der Verlauf der Melodien nicht erkennbar würde, und ohne die Berücksichtigung der Neumen diese Melodien monoton und farblos blieben.

Die Quadratnotation

Auffällig sind bei ihr die namengebenden quadratischen Notenköpfe sowie die häufige Gruppierung mehrerer Noten zu Notengruppen. Der Schlüssel ist meist ein C-Schlüssel (d.h. er markiert das c1), seltener ein F-Schlüssel (d.h. er markiert das f). Von diesem aus dürfte es ein Leichtes sein, die Tonhöhen der einzelnen Töne festzustellen. Allerdings sollte man hier nicht von absoluten Tonhöhen ausgehen - der "Kammerton a" war damals schließlich noch nicht erfunden - sondern man sollte beim Singen den Anfangston so wählen, daß das ganze Stück gut zum eigenen Stimmumfang paßt.
Für die meisten Notengruppen ergibt sich die Ausführung fast von selbst, einige müssen jedoch genauer erklärt werden:
Gegenüberstellung von Zeichen der Quadratnotation und Grundformen und Varianten der NeumennotationDer Pes ist eine aufsteigende Zweitongruppe, d.h. zuerst wird der untere der beiden Töne gesungen, dann der obere.
Der Porrectus ist eine Dreitongruppe mit der Tonfolge hoch-tief-hoch. Die "Rutschbahn" bezeichnet also zwei Töne, einen an ihrem Anfangs- und einen an ihrem Endpunkt.
Als Liqueszenzen werden Töne bezeichnet, die wahrscheinlich mit verminderter Stärke gesungen wurden. Sie stehen immer am Ende einer Silbe. Mittelalterliche Musiktheoretiker unterlegten in Beispielen den entsprechenden Noten Silben mit dem Endkonsonanten "m". Wo sich der Text dazu eignet, kann man an dieser Stelle also gut den (stimmhaften) Konsonanten auf einer eigenen Tonhöhe singen.
Das Quilisma bezeichnet eine "gezackt" gezeichnete Note, von der nicht ganz klar ist, was sie ursprünglich bezeichnete. Die heutige Konvention ist, diese Note sehr flüchtig und dafür die Note davor und danach besonders profiliert zu singen.
Die Bistropha (auch mit drei Tönen als Tristropha) bedeutet eine Tonwiederholung.

Es gibt verschiedene Neumenschriften. Für Einsteiger ist es sinnvoll, sich zunächst mit den St. Galler Neumen zu beschäftigen.

Neumen aus Handschriften in St. Galler Notation befinden sich im Graduale triplex in Rot unter der Quadratnotation. Die Quadratnotation muß sich aus einer den St. Galler Neumen sehr ähnlichen Notation entwickelt haben, indem die Grundformen mit einer breiten Feder auf die im 11. Jahrhundert erfundenen Notenlinien geschrieben wurden, wobei die runden Formen nach und nach zu eckigen Formen wurden. Deshalb lassen sich St. Galler Neumen und ihre Äquivalente in der Quadratnotation gut miteinander vergleichen.
Die Grundformen der Neumen lassen die Bewegung der Hand zu den "Positionen" der Töne erkennen. Dabei fällt bei den meisten Zeichen eine Art "Anstrich" auf; der tiefe Ton am Beginn wird bei Pes und Torculus mit einem von oben kommenden Strich erreicht, der hohe Ton am Beginn von Clivis und Porrectus mit einem von unten kommenden Strich. Letztere sind sogar noch in der Quadratnotation zu erkennen.
Die Grundformen der Neumen bezeichnen eine eher fließende Bewegung. Wenn bei mehreren Tönen, die in einer Neume zusammengefaßt sind, ein Ton stärker hervorgehoben werden soll als die anderen, so ist es der letzte und nicht der erste Ton einer solchen Gruppe. Bei den Einzeltönen besteht kein rhythmischer Unterschied zwischen Virga und Punctum (hier normalerweise als Tractulus bezeichnet); die Virga wird jedoch für höhere, der Tractulus für tiefere Töne verwendet.
Veränderungen:
Einige Neumen haben Sonderformen, die eine verlangsamte oder profiliertere Ausführung anzeigen sollen, etwa unter den "gedehnten" Formen die erste und dritte Form des Pes und die zweite Form des Torculus.
Das Episem ist ein kleiner Strich, der an einer Neume angebracht werden kann, um anzuzeigen, daß ein Ton oder die ganze Tongruppe verlängert werden soll. Ein Episem befindet sich unter den "gedehnten" Formen in der Tabelle rechts am Punctum, oben an der Virga, an der letzten Note einer Tongruppe bei der jeweils zweiten Form von Pes und Clivis, der ersten Form von Torculus und Bistropha sowie beim Porrectus. Bei der ersten Form der Clivis befindet es sich scheinbar am ersten Ton, gilt aber für beide Töne.
Außerdem können Zeichen einer Neume ersetzt werden. Dies geschieht besonders häufig bei Climacus und Scandicus bzw. Salicus. Bei der Grundform deuten die Punkte an, daß der Ab- bzw. Aufstieg eher flüchtig erfolgt. Einzelne oder alle der Punkte können durch Tractuli ersetzt werden, wodurch sich an diesen Stellen die Bewegung verlangsamt. Der jeweilige Hochton kann zusätzlich durch ein Episem gebremst werden. Bei der Bistropha bedeutet die Ersetzung der Häkchen der Grundform durch Virgen, daß die normalerweise eher leicht ausgeführten Tonwiederholungen jetzt ein wuchtiges Hervorheben jeden Tons sind. Auch hier kann der Effekt noch durch Episeme an der Virgen verstärkt werden.
Die St. Galler Neumenschrift verwendet daneben auch Buchstaben, um zur Ausführung von Noten und Notengruppen Hinweise zu geben. Wichtig sind hier vor allem die Buchstaben mit einer Bedeutung für den Rhythmus:
c = celeriter; der Ton oder die Tongruppe muß also schnell ausgeführt werden.
t = tenete; der Ton oder die Tongruppe muß ausgehalten bzw. langsamer gesungen werden.
m = mediocriter; der Ton oder die Tongruppe muß "mäßig", also nicht übertrieben schnell oder langsam ausgeführt werden.
x = expectate; vor dem nächsten Ton muß gewartet werden.

Rhythmus - aber wie?

Wer bis hier gelesen hat, dem wird aufgefallen sein, daß nirgends von Notenwerten die Rede war; keine Vergleiche mit Viertel- und Achtelnoten, keine genauen Längenverhältnisse. Die mittelalterlichen Theoretiker selber sprechen nicht von Längenverhältnissen, und so ist anzunehmen, daß der Rhythmus des gregorianischen Chorals eher dem Sprachrhythmus eines ausdrucksvollen Sprechers zu vergleichen ist: Manches wird flüchtig ausgesprochen, ja, fast verschluckt, anderes der Deutlichkeit halber überdeutlich artikuliert, und manches zur besseren Nachvollziehbarkeit ganz langsam gesprochen. Wer die hier angegebenen rhythmischen Hinweise in diesem Sinne anwendet, der wird mit einer Musik belohnt, die jedes Marschieren vermeidet und in ihrem Ausdruck stets überraschend und natürlich wirkt.

Mehr:

Dies kann nur eine kurze Einführung in das Phänomen der Neumen sein und es nicht erschöpfend behandeln. Wer sich wirklich mit diesem komplexen Thema näher beschäftigen will, sollte Folgendes berücksichtigen:

Zum Weiterlesen:
Eugene Cardine in Zusammenarbeit mit Godehard Joppich und Rupert Fischer
Gregorianische Semiologie
Übersetzt von Johanna Grüger unter Mithilfe von Margret Schünemann
Solesmes 2003, Verlag: Les Editions de Solesmes, Abbaye Saint-Pierre-de-Solesmes
180 Seiten, Fadenheftung, kartoniert, 522 Musikbeispiele
ISBN 2-85274-049-4

© Oktober 2005 Karen Thöle