Literarische Quellen sowie Gemälde und Skulpturen geben uns die Namen bzw. die Formen der verwendeten Instrumente. Eine Zuordnung von Namen und Abbildung ist nicht immer leicht. Verführerisch ist es, die genannten oder abgebildeten Instrumente zu einem Ensemble zu gruppieren. Doch muß dabei berücksichtigt werden, daß sowohl mittelalterliche Lyrik als auch mittelalterliche Malerei dazu neigen, nacheinander Geschehenes in einem Atemzug bzw. auf einem Bild zu vereinigen. Die Ensembles werden wohl kleiner gewesen sein, als die Aufnahmen der vergangenen Jahrzehnte uns glauben lassen. Trotzdem lassen sich einige Regeln aus diesen Quellen ableiten, da manche Zusammenstellungen eben doch auf bestimmte Besetzungen schließen lassen. Bindend scheint zumindest eine Trennung der lauten und der leisen Instrumente gewesen zu sein. An das "Zufallsorchester", von dem die Pioniere der Alten Musik ausgingen, glauben die Vertreter der Historischen Aufführungspraxis heute nicht mehr.
Die meisten der heute noch erhaltenen Instrumente sind nicht älter als aus dem 16. Jahrhundert. Und das Kriterium für ihre Überlieferung war oft auch nicht ihr vorbildlicher Klang, sondern ein besonders schönes Aussehen, besonders kunstvolle Verzierungen. Die Abbildungen von Instrumenten, meist in der Buchmalerei, können natürlich nicht als maßstabsgetreue Zeichnungen gelesen werden. Über Fragen wie die Bohrung eines Blasinstrumentes oder die Stimmung eines Saiteninstrumentes können sie gar keine Auskunft geben.
Grundsätzlich gibt es zwei verschiedene Herangehensweisen.
Die eine fragt danach, wie ein bestimmtes überliefertes Stück wohl geklungen haben mag, für welche Besetzung es komponiert sein könnte. Die andere geht von einer vorhandenen, über Bilder oder Texte nachgewiesenen Besetzung aus und fragt, welche Stücke diese Besetzung wohl musiziert haben könnte.
Für die erste Herangehensweise finden sich eventuell Hinweise im Manuskript selber: Wenn in einer Stimme der Text fehlt, und es sich nicht um einen so bekannte Text wie den Messetext handelt, kann man annehmen, daß diese vielleicht auch von einem Instrument ausgeführt wurde. Dies gilt besonders, wenn es nicht möglich ist, dieser Stimme den Text einer anderen Stimme zu unterlegen, ohne daß Text oder Musik verstümmelt werden. Umgekehrt kann eine vollständige Textunterlegung in allen Stimmen ein Hinweis auf eine rein vokale Aufführung sein. Aber auch Aktennotizen helfen uns weiter, etwa wenn wir dadurch erfahren, daß in einer bestimmten Kathedrale nur rein vokal musiziert wurde.
Bei der zweiten Herangehensweise wird sich wohl nicht so leicht ein vollständiges Repertoire erschließen lassen. Gerade Instrumentalbesetzungen musizieren auf den Bildern normalerweise ohne Noten, und zu einem hohen Prozentsatz dürften sie improvisierte Musik ausgeführt haben. Nur in seltenen Fällen werden Gattungen deutlich, die wir auch als notierte Musik kennen. Die wenigen rein instrumentalen Tanzsätze, die überliefert sind, und die einen kleinen Einblick geben in das, was die Musiker improvisiert haben könnten, lassen sich leicht abzählen. Aber zuweilen öffnet sich für die Instrumentalisten ein größeres Feld, etwa, wenn berichtet wird, bei einer Feier habe ein Alta-Capella-Ensemble (Schalmei, Altpommer, Zugtrompete) Motetten gespielt, also Musik, die normalerweise gesungen wurde.
Hilfreich ist die Kenntnis der Manuskripte, der jeweils verwendeten Notation. Aus ihr ergibt sich, ob das Metrum hervorgehoben wird, oder ob jede Stimme nach eigenem Ermessen bestimmte Wendungen, bestimmte Rhythmen hervorhebt. Wer selbst improvisieren möchte, der sollte sich mit der Grundlage aller mittelalterlichen Musik vertraut machen, dem sog. Gregorianischen Choral, und dadurch die Charakteristika der "Kirchentonarten" kennenlernen. Er sollte die Anweisungen der Musiktheoretiker studieren, die die Regeln für die Komposition beschreiben, die sich aber in einigen Fällen auch auf die Improvisation anwenden lassen. Und er sollte sich mit den überlieferten Werken beschäftigen, um zu sehen, wie diese Regeln in der Praxis angewendet worden sind, und welche musikalischen Formen zu beachten sind.
© Oktober 2005 Karen Thöle