Sven Schütte:
5 Jahre Stadtarchäologie. Das neue Bild des alten Göttingen
Göttingen 1984
Bei der Veröffentlichung archäologischer Funde gibt es zwei typische Wege: zu warten, bis das Fundmaterial ausreicht, um es in mehreren Bänden in einer Gesamtschau zu präsentieren; oder aber jeden Fundkomplex einzeln in kurzen Zeitschriften-Artikeln darzustellen. Bekannte Beispiele für den ersten Weg sind die Reihen "Medieval Finds from Excavations in London" und die Reihe "Ausgrabungen in Schleswig. Berichte und Studien" (siehe auch meine Rezension vom November 2005). Der zweite Weg hat den Vorteil, daß Funde nicht jahrelang in den Archiven auf ihre Bearbeitung warten müssen, aber dafür auch den Nachteil, daß die Berichte meist nur von wenigen Spezialisten wahrgenommen werden.
Sven Schütte wählte 1984 mit seinem Buch über Göttinger Funde einen Mittelweg, indem er nach fünf Jahren stadtarchäologischer Forschung einen Zwischenbericht in einem separaten Buch herausbrachte. Er zeigt darin vor allem auf, was Stadtarchäologie alles bedeuten und zu welchen Ergebnissen sie führen kann. Dazu integriert er auch Artikel anderer Autoren.
Das Spektrum ist dabei weit: Mittelalterliche Hausgrundrisse werden rekonstruiert und mit Zinsregistern verglichen. Knochenfunde von Begräbnisstätten geben Aufschluß über den Gesundheitszustand mittelalterlicher Menschen, aber auch über ihre medizinischen Fähigkeiten (etwa bei einer verheilten Kopfwunde) oder über Mentalitäten (wenn Schädel in einem Ossuarium gesammelt werden, oder auch Tot- oder Frühgeburten bestattet werden). Pflanzenreste geben Aufschluß über Landwirtschft und Ernährung. Einzelne Artikel beschäftigen sich mit der Bedeutung der Dendrochronologie, der Restaurierung und Inventarisierung von Funden.
Und natürlich werden Sachfunde vorgestellt. Aus Kirchen und Klöstern, aus der 1387 zerstörten Stadtburg der Welfenherzöge, aus Bürgerhäusern und Werkstätten, aus Kloaken, aus dem Leinekanal. Kannen, Leuchter, Becher, Gläser, Ofenkacheln, Münzen, Buchschließen, Nadeln, Zinnkännchen, Holzschüsseln, Daubenschalen, Gußformen, Werkzeuge zum Buchbinden, Knochenkämme, Tuchplomben, Gewebefunde, ein Klodeckel, Löffel, eine Trippe, Kochgeschirr, Würfel, Spielzeug, Messer, Griffel.
Das Buch macht Appetit auf mehr. Einerseits, weil schon dieses Buch vieles nur andeutet, aber nicht vollständig ausführt. So verzichtet Schütte auf einen systematischen Katalog. Und es sind zwar sehr viele Gegenstände abgebildet, aber nicht alle überhaupt auch datiert oder im Text genau beschrieben. Und manches wird im Text erwähnt, aber nicht im Detail ausgewertet oder abgebildet.
Andererseits, weil dies nur die Funde von fünf Jahren der Forschung sind. Seitdem sind 22 Jahre vergangen, und die Stadtarchäologie war seither nicht müßig. Schütte selbst spricht über die außerordentlich günstigen Bedingungen in Göttingen: "Ein großer Teil der Stadt ist auf Niederungsgelände errichtet, so daß Aufhöhungen bis zu dreieinhalb Metern anzutreffen sind. Diese Aufhöhungen sowie der hohe Wasserstand bieten hervorragende Erhaltungsbedingungen selbst für empfindlichste Materialien wie Holz, Leder und Textilien. Im Vergleich zu anderen Städten besitzt Göttingen eine überdurchschnittlich hohe Funddichte pro Flächeneinheit." (Zitat Schütte, S. 8).
Da ist es schade, daß es noch keine Gesamtschau Göttinger Funde gibt. Zwar gab es 2005 eine Ausstellung und einen dazugehörigen Katalog, doch beschränkte sich beides auf ein einziges Grabungsareal im sogenannten "alten Dorf". Dabei gibt es wirklich spektakuläre Funde, die 1984 noch nicht gemacht worden waren, aber auch nicht zum "alten Dorf" gehören. Die in einer Göttinger Kloake gefundene Blockflöte aus dem 14. Jahrhundert zum Beispiel, die in zwei Artikeln im Göttinger Jahrbuch publiziert wurde.
Bleibt die Frage, für wen dieses Buch zu empfehlen ist. Auf jeden Fall für denjenigen, der sich für Funde aus dem Göttinger Raum interessiert. Jedoch sollte der ergänzend auch die Jahrgänge des "Göttinger Jahrbuchs" seit 1984 zur Hand nehmen sowie den Ausstellungskatalog zur "Gutingi"-Ausstellung von 2005 (auch wenn dort manche Zeiten, etwa das 13. Jahrhundert, praktisch gar nicht vertreten sind). Ansonsten ist sicherlich noch das Werkzeug einer Buchbinder-Werkstatt des 14. oder 15. Jahrhunderts interessant.
© 13. Mai 2006 Karen Thöle