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Rezension September 2006

Ulf Dirlmeier, Gerhard Fouquet, Bernd Fuhrmann:
Europa im Spätmittelalter 1215-1378
Reihe: Oldenbourg Grundriss der Geschichte
München, R. Oldenbourg Verlag 2003

Braucht ein Living-history-Darsteller Hintergrundwissen zu seiner Darstellung? Sollte er sich nur als "lebenden Kleiderständer" betrachten? Sollte sein Wissen sich auf das erstrecken - und auch beschränken - was die Person, die er darstellt, wissen konnte? Oder sollte er mehr zu seiner gewählten Zeit wissen, über politische und wirtschaftliche Entwicklungen, die über ein einzelnes Menschenleben, eine Rolle weit hinausgehen?

Wer dieses Hintergrundwissen haben will, ist mit den Bänden der Reihe OGG gut bedient. "OGG" steht für "Oldenbourg Grundriss der Geschichte". Diese Reihe beginnt mit der antiken griechischen Geschichte und reicht bis zur Gegenwart; mit der mittelalterlichen Geschichte befassen sich die Bände 5-9. Die Bücher dieser Reihe sind nach einem gemeinsamen Konzept geschrieben; ein Konzept, das sie im Übrigen mit den Bänden der Reihe "Enzyklopädie deutscher Geschichte", ebenfalls von Oldenbourg, gemeinsam haben.

Das Konzept dieser Bücher ist eine Dreiteilung in Darstellung - Grundprobleme und Tendenzen der Forschung - Quellen und Literatur. Das bedeutet, daß im ersten Teil jeweils die gesicherten Fakten zum Thema dargestellt werden. Dieser Teil kann ohne weiteres auch für sich gelesen werden. Im zweiten Teil geht es um die Forschungsgeschichte, darum, welche Aspekte des Themas wann im Vordergrund standen, welche Forscher sich womit beschäftigt haben, und welche Themen eventuell umstritten sind. Der dritte Teil besteht aus einer Liste von Büchern und Artikeln, diese Literaturliste umfaßt im vorliegenden Band 1452 Titel.

Der Aufbau ist übersichtlich. Die einzelnen Aspekte werden in allen drei Teilen in der gleichen Reihenfolge durchgenommen. Am Seitenrand machen Stichworte zu jedem einzelnen Absatz es einfach, den Überblick zu behalten oder schnell nach etwas ganz Bestimmten zu suchen. Zwar gibt es keine Fußnoten, in einigen Fällen allerdings Verweise auf Titel der Literaturliste. Am Schluß stehen zudem Herrscherlisten, eine Zeittafel und ein Personen-, Sach-, Autoren- und Ortsregister.

Der Schreibstil ist komprimiert und nichts zum "Verschlingen". Das Konzept zwingt die Autoren zur Kürze, in der sie jedoch offensichtlich so viel wie möglich unterbringen wollen. So kann ein Konflikt in einem Satz, eine Schlacht in einem Nebensatz abgehandelt werden. Dies bedeutet, daß man dieses Buch nicht wie einen Roman einfach auf einen Rutsch durchlesen kann. Insbesondere bei den Teilen, bei denen man nicht schon Hintergrundwissen hat, sollte man sich Zeit lassen - den Bezug zum vorigen Absatz suchen, oder darauf warten, daß unklare Punkte in einem anderen Kapitel wieder aufgenommen werden. Oder das Buch als Wegweiser zu Sekundärliteratur nutzen, in der die Ereignisse, über denen man brütet, ausführlicher beschrieben sind.

Die Autoren des Buches sind oder waren alle drei Mitarbeiter der Universität Siegen, Ulf Dirlmeier seit 1981 als Professor, Gerhard Fouquet nur kurze Zeit als Akademischer Rat, Bernd Fuhrmann, der sich erst 2002 habilitierte, zur Zeit als Privatdozent. Alle drei eint das Interesse an der Sozialgeschichte des Mittelalters, an den Lebensbedingungen mittelalterlicher Menschen, die durch die Umweltsituation bedingt wird und sich z.B. in den Abrechnungen der Haushaltsführung widerspiegelt.

Entsprechend beginnt ihr gemeinsames Buch mit dem Wetter. Die Umweltbedingungen bilden sozusagen die Grundlage, auf die dann der Reihe nach der Umgang mit den Rohstoffen, Bevölkerungswachstum und -rückgang, wirtschaftliche und persönliche Beziehungen aufbauen, bevor dann erst das folgt, was viele seit der Schulzeit allein mit dem Fach Geschichte verbinden: die politische Geschichte mit ihren Königen und Kriegen. Die europäische Perspektive zeigt sich in Kapiteln zum deutschen Reich, der im Spätmittelalter entstandenen Eidgenossenschaft, Italien, dem Papsttum, Frankreich, Italien, England, der Pyrenäenhalbinsel, Osteuropa und Skandinavien.

Die Jahresgrenzen 1215 und 1378 betrachten sie nicht als feste Epochengrenzen. Möglicherweise waren diese ohnehin nur vom Verlag vorgegeben, um eine Lücke zwischen Band 7 und 9 zu füllen, die beide schon einige Jahre vorher erschienen waren. Die Autoren nehmen oft genug Bezug auf Entwicklungen, die schon im 12. Jahrhundert begonnen hatten oder bis ins 15. Jahrhundert weiterwirkten. Das ist insofern angenehm für den Leser, als er in diesen Fällen nicht noch andere Bände zur Hand nehmen muß, um Phänomene zu verstehen, die auch für die eigene Zeit von Bedeutung sind.

"Europa im Spätmittelalter" eignet sich also für Living-history-Darsteller des 13. und des 14. Jahrhunderts, egal, ob sie umfassende Hintergrundinformationen suchen oder "nur" den Wissenshorizont der dargestellten Person. Wetter und Klima, das Mißernten und Hungersnöte ebenso wie Weinbau in nördlichen Regionen bedingt, ging jeden etwas an, ebenso die Familien- oder Handelsbeziehungen. Und wer sich zudem auch noch für die politische Geschichte interessiert, wird auch hier fündig. Wer aber nicht gern liest, wird sich damit schwertun, wenn er weder Vorkenntnisse mitbringt noch die Lust, die kompakten Infomationen des Buches mit anderen Texten zu vertiefen.

© 29. August 2006 Karen Thöle