Harry Kühnel u.a.:
Bildwörterbuch der Kleidung und Rüstung. Vom Alten Orient bis zum ausgehenden Mittelalter
Reihe: Kröners Taschenausgabe Band 453
Stuttgart 1992
ISBN: 3-520-45301-0
Ein Bildwörterbuch zur Kleidung der Antike und des Mittelalters zu schreiben, ist keine einfache Aufgabe. Bildquellen, auf denen Kleidung zu sehen ist, gibt es genug. Schriftquellen, in denen Bezeichnungen für Kleidungsstücke genannt werden, auch. Beides zusammenzubringen ist nicht nur hilfreich für Literaturwissenschaftler, Historiker, Kunstgeschichtler und Archäologen, sondern auch für Living-history-Darsteller.
Literaturwissenschaftler und Historiker möchten wissen, wie das in einem Text benannte Kleidungsstück nun aussah. Kunstgeschichtler und Archäologen möchten den Namen des von ihnen untersuchten Kleidungsstückes oder -zubehörs kennen, um sich mit Fachkollegen darüber austauschen zu können.
Im Bereich Living history würde es reichen zu wissen, wie ein Kleidungsstück, ein Accessoire genau aussah, um es nachzuschneidern oder nachzubauen. Eine Beschreibung ohne Abbildung, und sei sie noch so ausführlich, ist hierfür in den meisten Fällen nicht genug. Doch auch hier ist eine Terminolgie für Kleidung, Rüstung, Accessoires hilfreich, um weitere Informationen zu einem Gegenstand zu finden, den man auf einem Bild gesehen hat.
Vor dem Hauptteil befinden sich fünf Artikel: "Die griechische Kleidung", "Die römische Kleidung", "Die Kleidung im byzantinischen Reich", "Kleidung und Gesellschaft im Mittelalter" und "Die Kriegsrüstung im europäischen Mittelalter".
Von diesen ist der Artikel zur Kleidung und Gesellschaft im Mittelalter der längste. Er arbeitet vor allem die Informationen heraus, die die Schriftquellen hergeben. Entsprechend auch die Literatur in den Anmerkungen: überwiegend historische und auch einige kostümkundliche Arbeiten aus dem Bereich der Kunst - und Literaturgeschichte.
Im Hauptteil finden sich dann die - laut Klappentext - 1000 Stichwörter und 350 Abbildungen. Wiederum sowohl aus der Antike (einschließlich des antiken Mesopotamiens, des alten Ägyptens, Griechenlands und Roms), dem mittelalterlichen Byzanz und dem mittelalterlichen Europa, teilweise auch noch des 16. Jahrhunderts.
Die einzelnen Artikel sind eher kurz und haben nur in wenigen Fällen Hinweise zu weiterführender Literatur. In manchen Fällen hätte eine genauere Datierung etwa von modischen Wechseln gutgetan.
Die Abbildungen sind in den meisten Fällen Nachzeichnungen von Malereien, Statuen oder Reliefs, in einigen wenigen Fällen auch von erhaltenen Originalstücken. Leider wird hier die Vorlage nie mit angegeben. Mit fast 200 Bildern ist den Herausgebern die Antike sehr wichtig. Daneben fällt noch besonders das 15. Jahrhundert mit fast 100 Bildern ins Auge. Die Jahrhunderte zwischen Antike und 15. Jahrhundert müssen dagegen mit entsprechend weniger Bildern auskommen. Dabei gibt es insgesamt mehr Abbildungen von Kleidung und Accessoires als von Rüstungen.
Im Anhang befinden sich noch 14 Schaubilder, ein Literaturverzeichnis sowie Kurzbiographien der elf an der Publikation beteiligten Mitarbeiter.
Auch hier sind die Bilder wieder Nachzeichnungen. Sieben beziehen sich auf die Byzantinische Geschichte, die restlichen sieben auf das europäische Mittelalter. Eine davon zeigt den Bischofsornat und eine die Kleidung von Nonnen und Mönchen. Die restlichen illustrieren die Entwicklung der Rüstung vom 13. bis 16. Jahrhundert.
Das Literaturverzeichnis enthält etwa 14 Seiten allein zum europäischen Mittelalter. Auch hier zeigt sich wieder, was im ganzen Buch schon auffiel: reichlich kostümkundliche Arbeiten aus der Sicht der Kunst- und Literaturwissenschaft, ebenso auch Arbeiten mit historischem Schwerpunkt. Arbeiten aus dem Bereich der auch 1992 schon sehr aktiven Mittelalterarchäologie fehlen dagegen fast vollständig.
Dies liegt sicher auch an der Zusammensetzung der Herausgebergruppe. Die Mitarbeiter mit Schwerpunkt Mittelalter haben vor allem Fächer mit historischer, kunst- oder literaturwissenschaftlicher Arbeitsweise studiert. Keiner von ihnen hat ein Studium der Ur- und Frühgeschichte absolviert, das Fach, in dem die Mittelalter-Archäologie an den meisten Universitäten angesiedelt ist.
Nur bedingt. Wer Kleidung nachschneidern, Accessoires nacharbeiten will, braucht unbedingt Zusatzinformationen von archäologischer Seite. Über verwendete Nähte etwa. Oder Detailzeichnungen von Gürtelschnallen, Fibeln, Nadeln und Ähnlichem. Und das alles kommt hier eindeutig zu kurz.
Wer an Kleidung und Ausrüstung des 15. Jahrhunderts arbeitet, findet hier unter den Abbildungen sicherlich manches interessante Kleidungsstück. Schade ist, daß man weitere Details nicht am Originalbild überprüfen kann, weil ein entsprechender Abbildungsnachweis fehlt.
Wer seine Darstellung aber in einem Jahrhundert zwischen 600 und 1300 n. Chr. ansiedeln will, hat hier schlechte Karten. Für jedes dieser Jahrhunderte lassen sich die Abbildungen zur Kleidung an einer Hand abzählen, dazu kommen noch einige wenige Bilder von Rüstungen. Und von diesen wenigen Bildern beziehen sich auch noch einige auf das mittelalterliche Byzanz. Man kann sagen: Für diese Zeit ist das Buch gar kein Bildwörterbuch, sondern nur ein Wörterbuch.
Und dann finden sich auch noch etliche mißverständliche oder pauschale Aussagen.
Etwa zum blassen, fahlen Gelb zur Kennzeichnung von Außenseitern (S. 135-136, Eintrag "Kleiderfarbe"), während in der Einleitung (etwa S. LI) auch ganz andere Farben, Rot und Grün, zur Kennzeichnung von Prostituierten genannt werden.
Oder zur Gugel im 14. Jahrhundert: "Die Gugel (Kapuze) fand in allen sozialen Schichten breitwillige Aufnahme, selbst bei Bauern und Hirten" (Einleitung S. XXXIX). Die Bauern und Hirten haben die Gugel aber schon lange vorher getragen. Neu ist im 14. Jahrhundert, daß auch die Reichen und Mächtigen anfangen, sie zu tragen. Das Mißverständnis beruht darauf, daß Kühnel eine spätmittelalterliche Gugel vom früheren Cucullus unterscheidet. Im "Cucullus"-Eintrag fehlt übrigens ein Hinweis auf die Gugel.
Oder zur Sutane (S. 257-258), ein Kleidungsstück, das offensichtlich schon zu Beginn des 13. Jahrhunderts existierte. So, wie Kühnel es beschreibt, kann es aber frühestens seit dem 14. Jahrhundert aussehen: durchgeknöpft und eng anliegend.
Für Mittelalter-Darsteller aus dem Bereich Living history ist es nicht wirklich geeignet, schon gar nicht die mit dem Schwerpunkt Früh- oder Hochmittelalter. Für die mit einer Darstellung im 15. Jahrhundert könnte es immerhin Anregungen bieten. Und wer viel mit Schriftquellen arbeitet, wird es zur Orientierung benutzen können.
Als Einsteigerbuch eignet es sich aber nicht. Dazu ist es zu umständlich, zu mißverständlich, und hat zu wenig detailreiche Bilder. Und dazu ist es wahrscheinlich auch gar nicht gedacht gewesen.
© 1. März 2006 Karen Thöle