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Rezension Juli 2006

Gabriele Legant-Karau:
Zur Siedlungsgeschichte des ehemaligen Lübecker Kaufleuteviertels im 12. und frühen 13. Jahrhundert. Nach den ältesten Befunden der Grabung Alfstraße-Fischstraße-Schüsselbuden 1985-1990
Hamburg 1998
Elektronische Veröffentlichung unter: http://deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv?idn=974538795

Wie lebten die Menschen des Mittelalters? Wer das wissen will, dem können Rekonstruktionen von Kleidung und Arbeitsgerät nicht genug sein. Lebensgefühl wird wesentlich auch bestimmt duch die Räume, in denen man sich täglich aufhält: Wieviel Platz und welchen Komfort bieten sie? Wie sind sie gestaltet? Für welche Lebens- und Arbeitsbereiche sind separate Räume abgetrennt?

Anschaulich zeigen mittlerweile mehrere Freilichtmuseen Rekonstruktionen mittelalterlicher Häuser, am bekanntesten vielleicht das Museumsdorf Düppel. Sie beruhen idealerweise auf den Ergebnissen von archäologischen Ausgrabungen wie denen in Lübeck. Sie zeigen aber nur einen kleinen Ausschnitt von dem, was alles bisher ergraben werden konnte. Wer mehr zu einer bestimmten Zeit, Region und Siedlungsform wissen will, ist auf die Grabungsberichte angewiesen.

Die Dissertation von Legant-Karau zur Lübecker Siedlungsgeschichte ist ein solches Buch. Es beschreibt die Holzhäuser, die zwischen der Mitte des 12. und der Mitte des 13. Jahrhundert auf einem Ausgrabungsgelände in der Lübecker Altstadt standen.

Und nur diese. Wer gehofft hatte, auch die Gegenstände zu sehen, die die Einrichtung bildeten, oder die zur Kleidung der Bewohner gehörten, wird enttäuscht. Jedoch deutet auf diese Beschränkung schon das Wort "Befunde" im Untertitel, das die Baureste meint, im Gegensatz zum Wort "Funde", das den beweglichen Besitz bezeichnet.

Das Buch richtet sich an Fachleute. Die Autorin setzt voraus, daß ihre Leser die Fachbegriffe zum Holzbau kennen und wissen, was die formelhaften Angaben zur Position eines Befundes bedeuten. Das macht das Buch unanschaulich und - wenn man nicht weiß, was der Unterschied zwischen Pfostenbauweise und Ständerbauweise oder ein Pfettendach ist - bisweilen auch etwas rätselhaft.

Wer sich davon nicht abschrecken läßt, kann eine Vorstellung bekommen vom Entstehen und Wachsen einer mittelalterlichen Stadt. In Lübeck entstanden innerhalb weniger Jahrzehnte auf ehemaligem Gartengelände erst bauernhofartige Hofstellen mit Nebengebäuden und Hausgarten und bald darauf eine dichte städtische Bebauung mit mehrstöckigen Hinterhäusern und Hinterhöfen.

Daneben erfährt man auch so manches interessante Detail: Zumindest für die Keller war eine Raumhöhe von 2,50m normal. In einigen Häusern gab es Kachelöfen oder Fensterverglasung. Gruben spielten eine wichtige Rolle, nicht nur als Brunnen oder Kloake, sondern auch als Vorrats- oder Arbeitsgrube. Zunächst hatte jedes Grundstück seinen eigenen Brunnen, im Hof, zum Teil sogar im Haus, später erst ging man zu Gemeinschaftsbrunnen auf der Straße über. Einige anschauliche Rekonstruktionszeichnungen findet man auch im Abbildungsteil. Schön wäre es, zum Vergleich auch Funde von Kleidung oder Küchengerät heranzuziehen. Entsprechende Publikationen gab es allerdings zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Buches noch nicht.

Die Form der elektronischen Veröffentlichung bringt Nachteile, für die die Autorin jedoch nichts kann - eine Publikation im Rahmen der Reihe "Lübecker Schriften zur Archäologie und Kulturgeschichte" war geplant, hatte sich jedoch verzögert. Bei einem solchen langen Text ist es unpraktisch, wenn die Anmerkungen am Ende des Textes stehen: Während man bei einer Papierausgabe mit dem Finger zwischen den Seiten lesen kann, ist das Hin- und Herblättern bei der pdf-Datei nur umständlich zu bewerkstelligen. Ärgerlich ist auch, daß die Auflösung bei manchen der Grafiken zu gering ist, so daß man Beschriftungen innerhalb der Grafik nicht mehr lesen kann. Positiv ist allerdings die Aufarbeitung mit Lesezeichen für alle Kapitel und Unterkapitel sowie alle einzelnen Abbildungen.

Keine leichte Kost also - aber wer sich für Zeit, Region oder frühe Stadtentwicklung interessiert, wird hier den wissenschaftlichen Zugang finden.

© 6. Juli 2006 Karen Thöle