In vergangenen Zeiten war überwiegend die aktuell komponierte oder improvisierte Musik beliebt. Mit Ausnahme des Gregorianischen Chorals veraltete Musik schnell, und spätestens, wenn die Benutzer die musikalische Notation der Handschriften nicht mehr lesen konnten, geriet ein Stück in Vergessenheit.
Das änderte sich im 19. Jahrhundert. Zunächst waren es die Komponisten Johann Sebastian Bach und Giovanni Pierluigi da Palestrina, deren Werke mit Begeisterung wiederaufgeführt wurden. Die mittelalterliche Musik blieb, da die Entdeckung und Entzifferung von Musikhandschriften nicht schnell genug voranging, ein Feld für Spekulationen.
An der Wende zum 20. Jahrhundert wurde diese Lücke geschlossen. Zunehmend stehen dem Musiker und Musikforscher Übertragungen mittelalterlicher Musik zur Verfügung. Inzwischen ist es selbstverständlich, daß in Konzerten mit europäischer Kunstmusik fast ausschließlich Werke vergangener Jahrhunderte zu hören sind, und daß es für jede Epoche der europäischen Musik Spezialensembles gibt. So selbstverständlich, daß im Bereich der mittelalterlichen Musik oft auch Ensembles die Selbstbeschreibung "historisch" oder "authentisch" verwenden, auf die das Etikett "neu" oder "originell" besser passen würde.
Bei der Wiederentdeckung mittelalterlicher Musik sollten drei Ansätze unterschieden werden. Bei jedem Stück, bei jeder Aufnahme sollte überlegt werden, ob die Musiker
Bei den verschiedenen Ensembles kann es durchaus auch Mischungen der einzelnen Zugänge geben, dennoch ist die Ausrichtung der meisten Ensembles zu je einer Richtung normalerweise klar.
Zum Beispiel:
Im Unterschied zur Musik späterer Zeiten enthalten die Musikhandschriften des Mittelalters nicht alle Informationen etwa zur Besetzung, die die Musiker zur Ausführung brauchen. Im 19. Jahrhundert wurde deshalb gerne den einstimmigen mittelalterlichen Liedern - analog zum romantischen Klavierlied - eine Klavierbegleitung beigegeben. Beispiele dafür sind zu finden in dem schönen Buch "Ein Traum vom Mittelalter. Die Wiederentdeckung mittelalterlicher Musik in der Neuzeit" von Annette Kreutziger-Herr. Da den Herausgebern sicherlich bewußt war, daß es im Mittelalter kein Klavier gab, ist dieser Versuch einer Aktualisierung als kreative Aneignung zu begreifen.
Als historische Aufführungspraxis, wenn auch noch mit modernen Instrumenten, waren wohl die monumentalen Interpretationen von Perotin-Organa des Rudolf von Ficker gemeint: Er arrangierte die ursprünglich von drei bis vier Solisten gesungenen Stücke für großes Orchester und gemischten Chor, weil er ehrlich überzeugt war, in einer solch großen und bunten Besetzung habe man diese Stücke im Mittelalter aufgeführt.
Diese inspirierten dann wiederum Carl Orff zu seinen "Carmina burana". Da hier keine mittelalterlichen Melodien oder gar mehrstimmige Sätze verwendet werden, sondern nur mittelalterliche Texte vertont wurden, ist das Werk als angelehnte Neukomposition einzustufen. Wenn man die "Carmina burana" mit einer Einspielung eines Perotin-Organums im Arrangement von Rudolf von Ficker vergleicht, fällt eine Ähnlichkeit zwischen beiden auf, vor allem bei der Instrumentierung. Orff mußte damals annehmen, hier spezifisch mittelalterliche Techniken übernehmen zu können. Jedoch hat man aus heutiger Perspektive den Eindruck, daß er vor allem das aufgriff, was an Fickers Arrangement modern und zeittypisch war.
Nach der Musik des Barock griff die historische Aufführungspraxis auch die Musik des Mittelalters auf. Zwar hatte jede Generation von Interpreten das gleiche Ziel, nämlich die mittelalterliche Musik so genau wie möglich zu rekonstruieren und zur Ergänzung fehlender Angaben in den Musikhandschriften soweit möglich nur etwa zeitgleiche Quellen heranzuziehen. Dennoch ist das Klangbild etwa einer Aufnahme aus den siebziger Jahren und eine heutige Aufnahme von Musik des gleichen Komponisten auffallend unterschiedlich. Dies liegt an den immer neuen Erkenntnissen vor allem zur Besetzung, die in die Interpretation einfließen.
Heute ist man von der Verwendung zahlloser und unterschiedlichster Instrumente innerhalb eines Stückes mehr oder weniger abgekommen, man arrangiert auch nicht mehr so viel, auch wenn es immer noch gemacht wird. Der Trend geht eher dazu, möglichst viele Stimmen oder Stücke vokal aufzuführen, auch textlose Stimmen, die man früher automatisch als Instrumentalstimmen gedeutet hat. Sänger achten auf die historisch passende Aussprache. Bei der Ausführung wird auch die originale Notation berücksichtigt, in manchen Fällen wird direkt aus dem Faksimile musiziert. Auch wenn man bei historischer Aufführungspraxis vor allem an notengetreue Wiedergabe der Stücke denkt: Auch hier kann Improvisation vorkommen, vor allem bei der Entwicklung von Begleitstimmen. Sie sollte sich aber unbedingt an zeitlich passenden Vorlagen orientieren.
Die führende Ausbildungsstätte für Musiker, die sich im Bereich der historischen Aufführungspraxis der mittelalterlichen Musik widmen wollen, ist die Schola cantorum basiliensis.
Wichtige Ensembles, die auch die Entwicklung des Klangbildes verdeutlichen können, sind das "Studio der frühen Musik" von Thomas Binkley, das Ensemble "Sequentia", das "Ensemble für frühe Musik Augsburg", das "Ferrara Ensemble", das "Ensemble Gilles Binchois" und die Gruppen "Mala Punica" und "Les haulz et les bas".
Eine moderne Oper über Oswald von Wolkenstein, in der z.T. Melodien Oswalds verarbeitet werden, ist wiederum ein Beispiel für kreative Aneignung.
Das Mittelalter ist eine populäre Epoche. Das zeigen die immer zahlreicher werdenden Mittelalter-Märkte ebenso wie die Doku-Soap "Abenteuer Mittelalter" des Senders mdr. Dabei kommt es den Beteiligten wie dem Publikum allerdings allzuoft nicht darauf an, wirkliches Wissen zu vermitteln, sondern darauf, Träume und Sehnsüchte zu befriedigen und popularisierte Mittelalter-Bilder zu bestätigen. In diesem Sinne lassen sich auch die folgenden Musikströmungen begreifen, die musikalisch nur wenig mit dem Mittelalter zu tun haben, dafür aber um so mehr mit den verschiedenen Mittelalter-Bildern unserer Zeit.
Mittelaltermarkt-Musik wird zunächst erst einmal nur deshalb in Beziehung zum Mittelalter gesetzt, weil sie auf Veranstaltungen mit der Überschrift "Mittelalter" gespielt und deshalb von vielen Besuchern auch als "Musik des Mittelalters" wahrgenommen wird. Dahinter können sich sehr unterschiedliche Musikstile verbergen. Einige wenige Musikgruppen stehen der historischen Aufführungspraxis nahe. Bei den meisten Musikgruppen jedoch gibt es sowohl Anteile von kreativer Aneignung als auch von angelehnter Neukomposition. Das musikalische Material, das verarbeitet wird, besteht aus
Einige Gruppen, die musikalisch eher in den Bereich Folk- oder Rockmusik einsortiert werden sollten, und die typischerweise überwiegend Neukompositionen spielen, werden von ihren Hörern in Verbindung mit dem Mittelalter gesetzt. Das liegt im wesentlichen an den Texten, die populäre Mittelalterbilder umsetzen, seien es eher ein romantisches oder eher ein düsteres Mittelalterbild. Typisch ist der Verzicht auf erkennbar neuzeitliche Themen, also etwa auch keine Erwähnung neuzeitlicher Technik, stattdessen kommen gerne Begriffe wie Feuer, König, Knecht, Henker vor. Historische Instrumente können eingesetzt werden, sie werden allerdings so in das übrige Instrumentarium integriert, daß der Eindruck einer Folk- bzw. Rockband bestehen bleibt. Vorläufer solcher Gruppen ist die Gruppe Ougenweide, die in den 70er Jahren vor allem mit Neuvertonungen von mittelalterlichen wie auch von eigenen, mittelalterlichen Themen nahestehenden Texten bekannt wurden. Einige ihrer Melodien zu Minnesang-Texten wurden so populär, daß heute so mancher Musiker gar nicht mehr weiß, daß diese nicht tatsächlich aus dem Mittelalter, sondern von Ougenweide sind.
Annette Kreutziger-Herr:
Ein Traum vom Mittelalter. Die Wiederentdeckung mittelalterlicher Musik in der Neuzeit
Köln [u.a.]: Böhlau, 2003
ISBN: 3-412-15202-1
© 21. Dezember 2005 Karen Thöle